Schreibwerkstatt: Die ungeliebte Grille


Seine Augen saugten sich an den blinkenden Zeichen seiner Armbanduhr fest. Wieder und wieder rechnete er die Minuten im Verhältnis der noch zu bewältigenden Kilometer nach.
Endlich konnte er den Wagen  vor dem Hotel abstellen.
Beide seufzten. Geschafft! Aussteigen! Der Urlaub konnte beginnen.
Wie so oft dachten sie und er nicht das Gleiche. Der Wunsch nach geistiger Verbundenheit war groß.  Jedes noch so kleine Zeichen, wie ein gleichzeitiges Kratzen an der Nase wurde zum Symbol ihrer hoffentlich unendlichen Liebe hochstilisiert. Und doch konnten ihre Wünsche im Moment der Ankunft weder verschiedener noch unausgesprochener sein. Sie wollte raus in die Natur - er hinein ins Haus. Hinein in die Geborgenheit eines möglichst kleinen, dunklen und einsamen Raumes. Alleine, alleine, alleine - hämmerte Atemzug für Atemzug in jede seiner Zellen. Seine Augen tränten mittlerweile, das Gesicht blähte sich anschwellend auf, die Adern am Hals traten wie blaue, sich windende Bäche hervor.
Sie bemerkte von seiner Anstrengung sich nicht durch den Verlust der Koordination über Sprache und Bewegung zu verraten, nichts.
Geschäftig erkundete sie das architektonisch beeindruckende, aber für seine Bedürfnisse völlig
unbrauchbare Zimmer. Die einzige Möglichkeit in den nächsten Tagen auf Rückzug wäre im Notfall  das Clo gewesen. Das war der Grashalm an den er sich seit sie ihn zu ein paar gemeinsamen Tagen, sagen wir mal “überredet” hatte, klammerte. Nichts lag ihm ferner als seine eng bemessene Freizeit am Land zu verbringen. Doch zu Letzt stand ihre Beziehung auf der Kippe - gemeinsame Unternehmungen oder nie wieder Sex! Sie lud ihn zu diesem Urlaub, wild entschlossen auch das letzte seiner Geheimnisse zu ergründen,  ein. Er hatte also keine Chance auf Flucht gehabt.
Was ihn jetzt tatsächlich den Schweiß in Bächen zwischen Schulterblättern, den Achseln und dem Schritt hinabrinnen ließ war die Tatsache, dass es in diesem so spektakulären Zimmergebilde keine Intimität, nämlich nicht einmal am WC, geben würde! Die Nasszelle war als besonderes Stilelement mitten im Raum aufgebaut und rundum von Glasflächen begrenzt.
Scheiße schoss es ihm durch den Kopf. Das Wort “Scheiße” traf es in diesem Fall mehrfach präzise. Es war so vulgär wie passend. Scheiße, Shit, verdammt!
Was nun? Er spürte die bereits vorbereitete Spritze in der Vordertasche seiner Jeans. Eigentlich ein ganz schlechtes Versteck, denn kein Ort an seinem Körper war vor ihren kleinen, flinken Fingern sicher. Im richtigen Moment liebte er ihre suchenden Berührungen. Mal verspielt geheim, mal zärtlich, mal neckend, mal aufreizend. Manchmal zog sie sogar ihre kleinen Schuchen aus und spielte, versteckt unter langen Tischdecken, mit ihren Zehen zwischen seinen Beinen rum. Eine Freude, die gerade jetzt unpassender nicht sein konnte. Das Gift könnte über die Injektionsnadel in ihren Körper gelangen. Ihre Augen würden sich vor Erstaunen über den unerwarteten Stich in Entsetzen und Verwirrung weiten. Ein Schmerzenslaut würde in die Welt geschickt werden und dann? Würde sie ohnmächtig zusammenbrechen, gar sterbend daliegen? Würde ihr Kopf einschlafend vorne über sinken? Würde gar nichts geschehen?
Ihm graute bei der Vision einer versehentlich ausgegebenen gratis Vergiftung. Bitter lachte er innerlich auf. Er konnte locker 10 Personen aufzählen die sich um  eine kleine Gratisgabe reißen würden. Weshalb musste er auch gerade über sie fallen? Sie, die Natur pur war!
Natürlich überhaupt nicht sein Typ - so ist das eben im Leben. Sogar ein bisschen größer als er, nicht viel, unauffällig; da sie sowieso keinen Schuh mit Absatz besaß. Er wusste es aber und es irritierte ihn. Manchmal, wenn sie miteinander schliefen hatte er ein komisches Gefühl wegen dieses Grössenunterschieds. Eigentlich abturnend, doch er war gut im Verdrängen.
Sie waren tatsächlich übereinander gefallen. Beide bewegten sich damals im Trend der Zeit laufend (der Unfall musste  also bereits in diesem Jahrtausend stattgefunden haben denn bis 2000 joggte man) um das ehrwürdige Schloss Schönbrunn. Geblendet aus einer Kombination von Abendsonne und Wiener Smog übersahen sie einander und rammten sich. Verwundert an etwas aus Fleisch und Blut gestoßen zu sein begann er umgehend mit den längst ausständigen Forschungsarbeiten zum Thema Mann und Frau. Beziehungskisten, von ein paar sehr hartnäckigen Männerfreundschaften abgesehen, hatten bis zu diesem explosiven Moment keinen Stellenwert in seinem Leben gehabt. Ihr Erfahrungsschatz dagegen war bereits so weit vorangeschritten, dass sie das Objekt des Zusammenpralls innerhalb von Sekunden als prächtiges, paarungswilliges Männchen identifizieren konnte. Möglicherweise war dazu gar kein Erfahrungsschatz notwendig gewesen sondern bloss Steinzeitwissen, doch wer weiß das schon?
Besonders faszinierten sie seine Augen mit den riesigen Pupillen und sein weicher Mund. Das erzählte sie ihm nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Er hingegen war  einfach genervt gewesen. Sie hatte sein sowieso schmerzendes Knie mit dem harten Anprall in unangenehmes Zittern versetzt. Er musste sich auf den Boden legen. Umgeben von Kaugummiresten und Zigarettenstummeln sah er zu ihr hoch. Was blieb da anderes übrig als sich einen Ort, der beide in eine bequemere Position bringen würde zu suchen um das gerade Geschehene zu analysieren sowie die erlittenen Schmerzen genauer zu erläutern.
Sich gegenseitig stützend gingen sie dann ein Stück des Weges. Aus dem Stützen wurde ein Tasten. Mit wachsender Freude ließ er ihre übertriebene Aufmerksamkeit an seinem Knie zu.
Steinzeitinstinkt hin oder her. Sie wurden zwar ein Paar, doch von einer Unterschiedlichkeit die kaum zu überbieten war.
Er warf sich rücklings aufs Bett und starrte frustriert die Decke an. Sie wollte die riesigen Glasfronten öffnen, wurde aber aufgrund der unauflöslichen Partnerschaft zwischen Klimaanlage und Fenstern daran gehindert. Überrascht prallte sie gegen die Wand. Ihr Arm, den sie kraftvoll zum Zug am Fensterhebel angespannt hatte, katapultierte sie ins Rauminnere. “Ich kann das Zirpen der Grillen nicht hören!” jammerte sie. Ich werde eine fangen und mit ins Bett nehmen. “Wir sind doch hier um Glühwürmchen zu sehen, um uns zur Musik der Natur zu lieben.”
Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Diese furchterregenden Insekten mit ihren Flügeln, Haaren, Stacheln, Beisswerkzeugen, schillernden Panzern und Facettenaugen. Es gab keine Worte die seiner Abneigung gegen diese Mitbewohner gerecht werden konnten. Verband er ihre Anwesenheit mit Sommer, blühenden Wiesen, duftenden Gräsern und stacheligen Heuballen.
Als sie damals ineinander gelaufen waren, nahm er den Geruch ihrer Haut und ihres Haars wahr. Sie war der Frühling, der Beginn all seines Elends.
Nachdem er eingehend die Decke erkundet hatte kam ihm eine rettende Idee. Er schickte sie hinaus um nach einer Grille für die Nacht Ausschau zu halten. Er schwor ihr nach einem Powernapping sofort zu ihr zu kommen und sie vor der Wildnis zu beschützen. Er hatte zwar nicht die geringste Idee wie das anzustellen wäre, aber es war nicht der Zeitpunkt für weitreichende Logik.
Beinahe gleichzeitig sprangen beide hoch. Sie eine hundertstel Sekunde vor ihm Richtung Wiesen und Wälder - er vom Bett um endlich die Injektion hervorzuholen. Seine pulsierende Vene sprang erwartungsvoll mit. Der Stich war lustvoll von Schmerz keine Spur. Was für ein Gefühl! Seine Schleimhäute schienen sich zusammenzuziehen, Flüssigkeiten, die seine Augen regelrecht aufquellen ließen versiegten, die Dornenhecke, welche in seinem Rachen wucherte, zog sich zurück.
Wann würde er ihr endlich gestehen, dass er schwerer Allergiker war? Er verschob das Gespräch auf morgen.
Jetzt freute er sich auf Grillen im Bett.



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